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Overload/Meltdown/Shutdown - Wenn das System überlastet ist

Wie oft stehen wir ratlos vor unseren Kindern. Manchmal scheint es wie aus dem Nichts zu kommen. Gerade war noch völlige Ruhe und plötzlich wird gebrüllt und um sich geschlagen. Die einen beißen, kratzen und spucken, andere richten ihre Aggression gegen sich selbst oder im Umfeld befindliche Personen werden beleidigt. Doch dies ist nicht etwa eine gewollte Handlung unserer Kinder, oder ein einfacher Wutausbruch. Vielmehr ist es das Resultat einer maßlosen Überforderung. Eine Überforderung aufgrund der mangelnden Fähigkeit Reize zu filtern. Für uns als Eltern oder auch Betreuer von Autisten ist es wichtig zu erkennen, wann denn das Kind auf einen Overload (Reizüberflutung, Überladung) zusteuert. Das gibt uns Zeit zu reagieren und unsere Kinder vor dem völligen Chaos zu bewahren.

Wie ich bereits in meinem früheren Beitrag "Stress erkennen, Stress vermeiden" beschrieb, ist es wichtig zu erkennen, was unsere Kinder überfordert. Das ist von Kind zu Kind sehr individuell. Da aber Autisten Reize kaum bis gar nicht filtern können, prasselt alles mögliche auf sie ein und ist sicherlich der Hauptgrund für einen Overload. Geräusche, Gerüche, visuelle Eindrücke, Personen um sie herum, ein ständiger Input, der sich zu einem Einheitsbrei vermischt. Aber eben auch Stressauslöser können zu einer Überlastung führen. Sind etwa Anforderungen falsch gestellt, fühlt sich das Kind unter Druck,  Ärger in der Schule, eine Vertretung in der Betreuung, können unsere Kinder überfordern. Auch eine Überforderung durch aufgestaute Gefühle (oftmals eine Folge der Anpassung in der Gesellschaft) können zum Overload führen.

Unser Philipp kam ganz oft vom Kindergarten nach Hause und hatte sich direkt in seinem Zimmer verkrochen. Er nahm dort seine Hörgeräte raus, zog sich komplett aus und versteckte sich mit sämtlichen Decken und Kissen in seinem Kleiderschrank. Oft legte er sich die Regalböden noch auf sich drauf. Anfänglich waren wir doch sehr verwundert über sein Verhalten, bis wir dann verstanden hatten, wozu ihm das dient. Wir hatten dann schließlich den mittleren Teil seiner drei Schränke gar nicht mehr eingeräumt, sondern ihm seine "Höhle" als Rückzugsort gelassen. Bis jetzt nimmt er seinen Schrank immer wieder her um sich zurückzuziehen. Auch, wenn wir nicht zuhause sind, können wir bei Philipp immer wieder beobachten, dass er sich verkriecht, weg von allen Reizen. Wir lassen ihn und schauen dann, dass wir ihn bald möglichst komplett aus der Situation holen und nach Hause fahren.

Philipp hat für sich eine Strategie entwickelt, dem Overload zu entkommen. RÜCKZUG! Ein entrinnen aus der Situation, räumlich, akustisch, visuell.

Eine weitere Möglichkeit sind sogenannte repetitive/stereotype Verhaltensweisen, die oft stimulierend wirken, aber während eines Overloads auch Beruhigung bringen können. Gleich bleibende Handlungen werden immer und immer wiederholt. Das können Bewegungen mit dem Körper sein, beispielsweise das Hin- und Herwippen mit dem Oberkörper. Bei Philipp können wir oft beobachten, dass er beim Laufen in großen Menschenmengen die Pflastersteine anfasst, er geht dann gerne nur auf den Fersen oder achtet darauf, dass sein Fuß immer genau in einem Pflasterstein auftritt. Er macht dann vermehrt Geräusche oder fährt mit seinen imaginären Aufzügen. All das dient dazu, sich auf diese eine Handlung voll und ganz zu konzentrieren um so den Einflüssen, den Reizen von Außen zu entkommen. In dieser Situation sollte man sein Kind unbedingt nicht in dieser Handlung unterbrechen, aber dafür sorgen, dass sich die Situation grundlegend ändert.

Gibt es kein Entkommen aus dem Overload, funktionieren alle Strategien nicht, so kommt es zum sogenannten Meltdown (Kernschmelze). Ein nicht mehr steuerbarer Zustand für das Kind.

Das Kind erlebt einen völligen Kontrollverlust über sich selbst und Eltern sehen sich einem vermeintlichen Wutausbruch gegenüber. Aber es ist keinesfalls Wut, die unsere Kinder in diesem Moment um sich schlagen, Sachen zerstören oder sich selbst verletzen lässt. Es ist pure Verzweiflung darüber, die Kontrolle über sich selbst verloren zu haben. Ich kann an dieser Stelle wieder mal nur auf den Autor Bo Hejlskov Elvén hinweisen, der immer wieder die Notwendigkeit beschreibt, dass die Kinder stets die Selbstkontrolle über sich behalten bzw. wiedergewinnen müssen.

Diese völlige Entgleitung, den Meltdown, konnten wir in der Vergangenheit bei Philipp auch nicht immer aufhalten. Und wir sind dann oft machtlos dieser Explosion gegenüber gestanden. Mittlerweile deuten wir die Zeichen, erkennen, wenn die "Stimmung" quasi kippt. Manchmal sind es Sekunden, die uns bleiben um das Ruder rumzureißen. Manchmal ist es auch zu spät. Wir schauen, dass er dann nichts zum Werfen erwischt, Gläser, Teller, zerbrechliche Sachen werden aus seiner unmittelbaren Umgebung weggenommen, wir geben ihm Raum, damit er uns nicht verletzen kann und achten darauf, dass er sich selbst nicht weh tut. Es macht absolut keinen Sinn in diesem Moment auf ihn einzureden, denn das kommt absolut nicht bei ihm an. Er lässt sich in dieser Situation auch nicht anfassen oder gar festhalten, was wohl auf sehr viele Autisten zutrifft, denn das wäre nur wieder ein zusätzlicher Reiz. Wir bleiben in der Nähe, aber lassen ihn in Ruhe und erst wenn er sich beruhigt, suchen wir den Kontakt, sprechen ihn an oder schauen, ob er in den Arm genommen werden möchte.

Reize "abschotten", die Situation verändern, Raum geben, um die Selbstkontrolle wieder zu erlangen. Wir sind dabei eher passive Zuschauer, hilflos, so kommt es uns vor. Aber genau das ist es, was am Ende die Sicherheit zurückbringt.

Manchmal kann ein Overload nicht nur zu einem Meltdown führen, sondern einen Shutdown (Abschalten, Herunterfahren) herbeiführen. Ein Meltdown kann diesem vorausgehen, muss aber nicht. Die Reizüberflutung oder die Überforderung sind für das Kind unüberwindbar, ein Entkommen ist nicht möglich, gelernte Strategien zur Beruhigung helfen nicht oder können vielleicht nicht angewandt werden. Die Folge, SYSTEMABSTURZ. Da eine "realer" Rückzug nicht möglich ist, schalten sich Kinder quasi ab und wirken regelrecht abwesend, nicht mehr da.

Wir haben bei unserem Philipp noch keinen Shutdown erlebt, wenngleich auch länger anhaltender Stress bei Philipp schon zu ähnlichen, depressiven Phasen geführt hat. Ein völliger Rückzug aus der Welt und kaum noch ansprechbar.

Während eines Shutdowns ist es einfach wichtig, da zu sein. Darauf achten, dass so wenig Reize wie möglich auf das Kind einwirken. Nur, wenn das Kind die Nähe der Eltern sucht, sollte man darauf eingehen. Ungewollte Berührungen, seien sie noch so behutsam oder gar gewaltsames Festhalten, wären in diesem Moment (wie auch schon während eines Meltdowns) zusätzlicher Stress und kontraproduktiv.

Wir lernen alle mit unseren Kindern. Wir können nicht immer alles vorhersehen und planen. Jedoch helfen Strukturen im Alltag und Klarheit im Umgang mit unseren Kindern dabei, Overloads und die Folgen zu vermeiden. Jetzt können wir unsere Kinder nicht in Watte packen, können nicht alle Reize und Stress von ihnen fernhalten. Die moderne Welt ist eine reizüberflutete Umgebung. Autolärm, Fernsehen, Radio, beim Nachbarn der Rasenmäher .... Die Welt ist lauter, bunter, heller. In völliger Reizlosigkeit werden unsere Kinder nicht leben, aber mit genügend Pausen und Ruhezonen, die reizarm gestaltet sind, kann man die Häufigkeit der Overloads dezimieren.

Die Situationen analysieren, Auslöser erkennen, Strategien entwickeln.

So beenden wir unsere eigene Hilflosigkeit und die unserer Kinder. Die Möglichkeit zum Handeln ist da, wenn wir unsere Kinder verstehen.