· 

Stress erkennen, Stress vermeiden

Das klingt doch auf den ersten Blick ganz einfach. Ich erkenne Stress und vermeide ihn. Wie wichtig das für unsere Kinder ist, möchte ich euch anhand unserer Erfahrungen mit Philipp, gestützt auf die Erkenntnisse aus dem Buch von Bo Hejlskov Elvén "Herausforderndes Verhalten vermeiden - Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen", zeigen.

Wir machen uns alle Stress und jeder erlebt ihn selbstverständlich anders. Für Autisten ist dies noch mal besonders und gerade für uns als Eltern autistischer Kinder oder Kindern mit geistiger oder emotionaler Einschränkungen liegt die Herausforderung darin zu erkennen, wann und wie unsere Kinder Stress erleben und wie man eben diesen vermeiden oder zumindest reduzieren kann.

Am Ende tut man sich und auch seinem Kind etwas Gutes.

Zuerst einmal müssen wir wissen, was Stress überhaupt bedeutet. Stress ist etwas, das sehr subjektiv wahrgenommen wird. Jeder hat seine eigene "Schmerzgrenze". Anhand des Diathesis-Stress-Modells lässt sich Stress wie folgt beschreiben. Durch bestimmte Faktoren, sogenannte Stressauslöser, steigt die Belastung eines Menschen. Signale, die persönlich unterschiedlich sein können, warnen schon vorab, wenn die Belastung zu hoch wird. Werden Stressauslöser nicht reduziert oder kommen weitere Faktoren hinzu, wird die Belastungs-Obergrenze überschritten und man verfällt in das sogenannte Chaos. 

Erweitert man das Diahtesis-Stress-Modell um Grund-Stress-Faktoren, so sieht man schnell, dass Stressauslöser, die vorher vielleicht noch knapp an der Schwelle zum Chaos waren, diese nun überschreiten. Ihr kennt das sicher von euch selbst, eine Nacht mit wenig Schlaf und schon ist man am nächsten Tag gereizter. Ähnlich kann man sich das bei unseren Kindern vorstellen, die meist ein oder gar mehrere Grund-Stress-Faktoren mit sich herumtragen. Bei meinem Sohn ganz oft einfach Schlafstörungen und seine Kommunikationsschwierigkeiten. 

Viele dieser Grund-Stress-Faktoren werdet ihr als Problem bei euren Kindern wiedererkennen. Andere sind euch vielleicht gar nicht bewusst, dass auch sie Stress auslösen können. Ich denke ja bei uns spielt das Thema Reizüberflutung zumindest im Zusammenhang mit dem Hören eine untergeordnete Rolle, da er wenn es ihm zuviel ist einfach die Hörgeräte rausmacht und dann seine Ruhe hat. Andererseits hat er aufgrund der Schwerhörigkeit auch eine höhere Höranstrengung, die ihn zusätzlich ermüdet. Einige Grund-Stress-Faktoren haben wir beispielsweise durch TEACCH zwar nicht gänzlich behoben, aber zumindest gemildert, da es uns hilft mehr Struktur in Philipps Leben zu bringen und uns auch eine (weitere) Möglichkeit der Kommunikation bietet. Genauso überdenken wir immer wieder unser Handeln, vor allem unsere Emotionen. Es ist bestimmt nicht leicht, immer ruhig zu bleiben, aber um so ruhiger man bleibt, umso ausgeglichener sind die Kinder.

Starke Emotionen treten natürlich auch situationsbedingt vor allem bei Streit und Konflikten auf, wodurch die Belastung steigt. Ich will mal behaupten eine Familie gänzlich ohne Konflikte ist doch in den meisten Fällen eher selten. Und trotzdem kann man es nicht oft genug betonen, umso unaufgeregter der Umgang mit einem autistischen Kind ist, umso ruhiger und ausgeglichener wird es sein. Man wird eine Situation viel schneller entschärfen, wenn man auf Aggressivität ruhig reagiert und auf keinen Fall das Kind durch das Demonstrieren körperlicher Stärke unter Kontrolle bringen möchte. So haben wir bei Anforderungen auch gelernt, wenn man wartet und ihm Zeit lässt, klappt es meistens. Zeit lassen, ihm die Gelegenheit lassen sich auf die Anforderung einzustellen. Wenn ich hier sitze und schreibe und mein Mann spricht mich an, so werde ich ihm auch kurz signalisieren, dass ich noch schnell meinen Satz zu Ende schreibe bevor ich antworten kann.

Damit wir mit Philipp kommunizieren können, versuchen wir natürlich nach wie vor die Lautsprache, aber auch Bildkarten und Gebärdensprache, was Stück für Stück zum Erfolg führt. So versuchen wir Tag für Tag Stress-Auslöser zu vermeiden, ja das klingt jetzt wie auf rohen Eiern laufen und ja, oft ist es so. Wir richten uns sehr viel nach Philipp. Aber wir leiden nicht darunter. Ganz im Gegenteil. All unsere Bemühungen führen dazu, dass wir ein relativ entspanntes Familienleben haben, mit Einschränkungen zwar, aber es funktioniert. Wenn wir beispielsweise zu Feiern eingeladen sind oder auf ein Fest gehen wollen, dann schauen wir immer, wie ist er drauf, wie war die Woche, der Tag. Einfach damit man es vermeiden kann, dass er auf der Feier dann gestresst ist und dort dann in egal welcher Form auffällt. Wenn wir wissen, dass noch anstrengende Tage folgen werden, dann lassen wir so eine Feier auch schon mal aus. Natürlich schaffen wir es auch nicht immer alles vorherzuplanen und so kommt es immer wieder einmal vor, dass er mit bestimmten Situationen überfordert ist. Das Thema "Essen" ist eine einzige Katastrophe bei uns. Ansatzweise essen tut Philipp nur, wenn er quasi von zwei Seiten bewacht wird, sonst rennt er grundsätzlich vom Tisch immer weg. Dass man ordentlich mit Besteck ist, haben wir bislang nahezu aufgegeben und damit er überhaupt etwas isst, müssen wir ihn meistens füttern. Also da steckt bei uns doch an den meisten Tagen reichlich Konfliktpotential dahinter.

Wenn wir also nun wissen, was die Stress-Faktoren unserer Kinder sind, dann kann man diese im besten Falle im Vorfeld schon vermeiden. Wie schon gesagt, es ist bestimmt nicht immer einfach und es bedarf sehr viel Planen und Vorausschauen, aber die Bemühungen lohnen sich. Am Ende bedeutet es nämlich stressfrei leben für die ganze Familie.

Nun lassen sich ja manche Situationen nicht grundsätzlich vermeiden, entweder weil es Grund-Stress-Faktoren sind, die sich nicht beseitigen lassen oder weil es ein spontanes Problem ist, das Stress verursacht. In diesem Fall sollte man unbedingt die Warnsignale erkennen, die einfach zeigen, dass das Kind kurz vor einer Überbelastung steht. Bei uns war es beispielsweise mit dem alten Kindergarten so. Es war so ein hinhungern zu den nächsten Ferien. Oft war Philipp bereits kurz nach den Ferien wieder so ausgelaugt, dass er zum einen total unmotiviert war und zum anderen extrem gereizt und aggressiv. Wir haben ihn dann öfter, sehr zum Missfallen des Kindergartens, mal einen Tag zuhause gelassen oder haben Ferien vorgezogen. Das war natürlich keine Dauerlösung, denn wenn ihn der Kindergarten so stresst, dann war es für ihn nicht das richtige Umfeld, was wir dann ja auch leider so erfahren haben und er nun in einen Heilpädagogischen Kindergarten geht.

Bei Philipp merkt man als erstes, wenn er sehr aggressiv wird, dass es ihm zu viel ist, er zieht sich dann mehr und mehr in seine Welt zurück und hat zu nichts mehr Lust. Was auch auffällt, dass er Dinge, die er kann, nicht mehr macht, so wird beispielsweise die Sprache schlechter. Er kämpft extrem mit Schlafstörungen, schläft schlecht ein und wacht nachts auf. In allem wirkt er unsicherer und ängstlicher, was wir von ihm so gar nicht kennen, wenn es ihm gut geht. Wenn er einer länger andauernden Überbelastung ausgesetzt ist, dann war es auch schon mal so weit, dass er regelrecht depressiv wirkte.

Wenn die Stress-Faktoren bleiben und man anfängliche Warnsignale missachtet, kommt es eben zum Überschreiten der Belastungsgrenze, das Kind versinkt im Chaos. Der sogenannte Overload. Das ist das Ergebnis einer einzelnen Stress-Situation, kann aber natürlich auch über einen längeren Zeitraum gehen, wenn es beispielsweise ein andauerndes Problem in der Schule gibt. Gewaltätigkeiten, sowohl körperliche Gewalt als auch teils stundenlanges Schreien sind eine Folge. Manche Situationen lösen Angst- und Panikattacken aus (siehe "Hurra, wir fahren nach München!"). Es kann aber auch soweit gehen, dass es zu schweren Selbstverletzungen bis hin zu Suizidversuchen kommt. Eine dauerhafte Überschreitung dieser Grenze kann zu schweren Depressionen, Psychosen, Essstörungen und Angstzuständen führen.

Zu wissen woher das Verhalten eurer Kinder kommt, bedeutet die Möglichkeit zur Handlung zu haben. Ihr könnt steuern, ob eure Kinder dieses gern beschriebene herausfordernde Verhalten zeigen oder nicht. Meines Erachtens nach hat es zumeist etwas mit Stress zu tun. Es ist nicht etwa eine Charaktereigenschaft eurer Kinder, dass sie gerne "böse" sind oder aggressiv sein wollen. Nein, es ist das Resultat eines Lebens, dem sie nicht gewachsen sind. Passt euren Alltag, das Umfeld an eure Kinder an und ihr werdet erkennen, was in euren Kindern steckt. Das ist kein Prozess, der sich von heute auf morgen vollzieht, aber es ist ein gangbarer Weg, der in erster Linie euren Kindern gut tun wird und euch auch wieder mehr Ruhe schenkt.