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Veränderungen

Bild von Pixabay
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Veränderungen im Leben von Autisten sind oft schwer und mit Stress oder auch Angst verbunden. Wir Eltern von autistischen Kindern wissen das nur zu gut. Manche für uns kaum spürbaren Veränderungen im Alltag sind für unsere Kinder nur schwer zu ertragen. Nicht immer ist es für uns als Eltern sofort ersichtlich oder nachvollziehbar. Es gibt auch Veränderungen, die wir nicht aufhalten können oder gar rückgängig machen können.

 

Eine dieser unabwendbaren, nicht rückgängig machbaren Veränderungen, die unseren Philipp derzeit quälen, ist der vergangen Jahreswechsel. Mehrmals täglich haben wir seitdem das gleiche Thema, verbunden mit jeder Menge Tränen: "Ich traurig, 2022 weg." Nun lässt sich 2022 aber nun mal nicht zurückholen. Wir haben jetzt 2023. Und Philipp selbst hat kurz nach dem Jahreswechsel unzählige Bilder gemalt mit "Happy New Year 2023".

Also warum, ist es plötzlich ein Problem für ihn?

Wir können es uns nicht richtig erklären. Denn bisher hat ihm das noch nie solche Probleme bereitet. Es ist aber auch das erste mal, dass er es so bewusst wahrnimmt. Vorher haben wir aus seiner Sicht, irgendwann an seinem Planer ein neues Jahr hingehängt. Es hat ihn nicht weiter beschäftig oder berührt. Warum wir Silvester feiern, haben wir im alljährlich zwar erklärt, aber hat ihn nicht sonderlich interessiert.

Was steckt also dahinter?

Philipp war letztes Jahr als es auf die Winterferien zuging, schon ziemlich gestresst. Wir haben gemerkt, die Luft war einfach raus, das Aufstehen ist  ihm zunehmend schwerer gefallen, das Einschlafen hat wieder wesentlich länger gedauert. Es ist einfach Zeit für eine Pause gewesen. Ferien, Ruhe - einfach abschalten. Die Emotionen sind in alle Richtungen schneller ausgeschlagen, egal ob er schneller wütend wurde oder er immer wieder geweint hat, er  ist zunehmend unausgeglichener gewesen. Ein Zustand, der sich bis dato auch gehalten hat. Dass er in den Ferien dann so lange krank gewesen ist, mit hohem Fieber und nur noch auf der Couch liegend seine Zeit verbracht hat, hat nicht dazu beigetragen, dass sich sein Stresslevel wieder etwas abgesenkt hat. In so einem Zustand sind Veränderungen besonders schwierig zu verarbeiten.

Vermutlich steht die Traurigkeit um 2022 eher stellvertretend für eine persönliche Entwicklung und somit einer Veränderung, die sein Bewusstsein betrifft.

Es gibt derzeit viele Dinge, die Philipp beschäftigen. Neben seinem wiederentdeckten Interesse an Straßen und jetzt auch Landkarten, ist er derzeit sehr interessiert an seiner Zeit als Baby. Er möchte immer wieder seine Babyfotos anschauen, seine Babydecke ist aktuell mit das wichtigste, was in seinem Bett liegen muss und er vergewissert sich immer, dass er mal in meinem Bauch war. Dann muss er immer wieder feststellen, dass er nun schon groß ist. Zudem hat er in gewisser Weise ein zeitliches Bewusstsein entwickelt. Nun vergeht jeden Tag die Zeit ohne großes Gewese darüber. Man steht morgens auf, geht abends ins Bett und der nächste Tag kommt. Anders ist es am Jahresende und an Silvester. Zum Jahreswechsel wird uns allen immer bewusst, dass wieder ein Jahr rum ist, gerne reflektieren wir das Jahr. Was ist alles passiert, was haben wir erreicht, was hat uns glücklich gemacht oder sind wir enttäuscht worden?

Für Philipp, wie auch für uns, war letztes Jahr sicherlich eines der prägendsten und traurigsten Ereignisse, dass wir unseren Hund einschläfern mussten. Er war schon alt, krank und es war die Zeit gekommen, wo er einfach gehen durfte. Wir haben den Jungs erklärt, warum unser Lennox nun sterben darf, dass er alt ist, viele Schmerzen hat. Er bekommt Flügel und darf zur "Flügel-Oma" - meine Oma, die Engelflügel hat, damit sie im Himmel fliegen kann.

Ist also ein neues Bewusstsein für die Zeit und das Leben der Grund für Philipps Traurigkeit?

Vielleicht erkennt Philipp einen Zusammenhang zwischen der Zeit, die vergeht, und Menschen, wie Tiere, die älter werden und wenn sie alt sind, sterben. Ein Zusammenhang, der in ihm bewusst oder unterbewusst arbeitet, den er aber nicht in Worte fassen kann, sondern nur in seiner Aussage "Ich traurig, 2022 weg." äußern kann.

Doch wie können wir ihm da wieder raushelfen?

Ohne die Situation zu reflektieren, uns Gedanken zu machen, wo dieses vermeintliche Trauer um 2022 herkommt, haben wir versucht ihm das neue Jahr schmackhaft zu machen. Wir haben ihm erklärt, dass das ganz normal ist, dass immer wieder ein neues Jahr kommt und wie schön doch 2023 wird. Haben ihm Pläne erzählt, die wir für dieses Jahr haben, was ja dummerweise zukünftige Veränderungen sind und jetzt ebenfalls in ihm arbeiten. So bspw. unser geplanter Urlaub. Dieser spontane Versuch war also wenig gewinnbringend für Philipp. Letztlich gehen wir zu dem über, was er immer braucht.

Verlässlichkeit in uns als Personen und Beständigkeit in seinem Leben.

Philipp sucht diese Beständigkeit ganz von alleine. So egal, wie ihm sein Handy gerade ist, so wichtig sind ihm im Moment Filme schauen - immer und immer wieder die gleichen Filme. Dauernd die gleichen paar Geschichten, gleiche Bilder, gleiche Texte, gleiches Ende - beständig. Hundert mal Mama sagen, dass man sie lieb hat und Mama sagt das auch. Immer die Aufmerksamkeit von Mama suchen und auch den Körperkontakt einfordern, kuscheln, im Arm halten. Vergewissern, dass wir auch wirklich hier in Bayern wohnen, hier in unserem Haus und auch nicht weggehen (da haben wir gemerkt, dass die Urlaubsaussicht ihn zusätzlich ins Grübeln gebracht hat).

 

Wir machen das, was wir immer versuchen. Beobachten, reflektieren, Rückschlüsse ziehen und dann schauen, dass wir ihm die Sicherheit geben, die Krise, die er durchläuft zu überstehen. Ihn in seinen Entwicklungsschritten unterstützen, ihm die Verlässlichkeit und Beständigkeit vermitteln, die er gerade braucht. Und dann wird die Zeit, die ihn scheinbar in diese Problemlage manövriert hat, es wieder richten. Natürlich sind es unsere Rückschlüsse, um nicht zu sagen Vermutungen. Doch unsere Erfahrung mit Philipp in all den Jahren hat gezeigt, dass wir ihn am besten unterstützen, in dem wir ihn machen lassen, er nach seinen Bedürfnissen handeln darf und wir zu gegebener Zeit für Ablenkung sorgen. Und in unserem Familienleben, mit seinen Freunden in der Schule, der Schule selbst und in allem, das ihn umgibt, wird er  schließlich die Sicherheit und Ordnung in seinem Leben spüren, was Traurigkeit und Angst wieder verblassen lässt.