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Verständnis und Erziehung gehen Hand in Hand

Ich bin mir sicher, dass sehr viele von euch diese Problematik kennen. Ihr zeigt Verständnis für Dinge, die eure besonderen Kinder einfach nicht anders können. Nicht weil sie nicht wollen oder weil sie sich nicht genug bemühen. Nein, sie können einfach schlichtweg nicht anders handeln. Der eine darf im Winter barfuß rauslaufen, der andere isst mit 8 Jahren noch mit den Händen, ein anderer sitzt den ganzen Tag am Tablet. Und immer wieder bekommt man von außen den Vorwurf zu hören, man dürfe seinem Kind ja nicht alles durchgehen lassen. Du musst dein Kind schon erziehen.

Boa! Wie so etwas nervt. Natürlich erziehen wir unsere Kinder. Es gibt Regeln und vor allem Strukturen. Wahrscheinlich ist unser Alltag strukturierter als bei manch anderen Familien mit "normalen" Kindern. Ohne diese Strukturen würde nämlich hier gar nichts funktionieren. Aber gut. Ich böse Mama lasse meinen fast 6-jährigen Sohn beispielsweise auch am Tablet spielen und er darf auch fernsehen. Nicht weil ich meine Ruhe haben möchte. Aber auch ohne Medien, wusste Philipp noch nie sehr viel mit Spielsachen anzufangen. Er spielt schon, aber eben nicht wie andere Kinder. Klar, hatte ich die Illusion, wenn wir ihm ein Tablet kaufen, dann würden nur wertvolle Förderspiele darauf sein. Ganz ehrlich, ich muss immer noch manchmal über meine Naivität lachen. Er brauchte nicht einmal eine Woche bis er herausfand wie man Spiele runterlädt. Aber nun gut, wir sehen es halt jetzt so, dass er sich mit mehr beschäftigt, als den ganzen Tag mit seinen imaginären Aufzügen zu fahren. Wir akzeptieren es, wenn auch reglementiert, so lange es funktioniert und er sich auch auf andere Dinge einlässt.

Akzeptieren, dass die Dinge mit einem besonderen Kind einfach manchmal anders laufen. Verständnis haben. Das ist das, was unsere Erziehung ausmacht. Jeder kennt das. Man weiß, wie man selbst erzogen wurde, übernimmt diese Art bewusst oder unbewusst. Andere schlagen vielleicht gerade deshalb auch einen komplett anderen Weg ein. Auf jeden Fall, wird die Art und Weise, wie wir selbst erzogen wurden, unser Erziehungsverhalten beeinflussen.

Aber was mache ich, wenn ich ein besonderes Kind habe und plötzlich all meine Kenntnisse über Erziehung absolut nicht greifen? Um konsequent zu erziehen muss mein Kind auch die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung erkennen. Wenn ein Kind die Folgen seines Handelns nicht versteht, wie soll dann eine daraus resultierende Reaktion aussehen? Einfach nur auf natürliche Konsequenzen, die sich aus dem Handeln ergeben, kann man bei einem Kind mit geringem Gefahrenbewusstsein auch nicht setzen.

Die Lösung ist für uns auf jeden Fall Verständnis und ein Bewusstsein dafür zu haben, dass man ein Kind hat, das anders denkt, fühlt und durch seine Wahrnehmung oft anders handelt. Natürlich sagen wir zu ihm, dass wir es nicht schön finden, wenn er etwas "falsch" macht oder er muss sich bei seinem Bruder entschuldigen, wenn er diesen gebissen hat. Aber wir wissen auch, dass das was Philipp ausmacht, uns immer begleiten wird. Wir können also die ganze Zeit maßregeln für Dinge, die er am Ende doch nicht ablegen kann, oder wir akzeptieren es und schauen stattdessen, dass wir unseren Alltag so gestalten, dass er gar nicht erst zu einem "Fehlverhalten" kommt.

Bei uns läuft absolut nicht alles perfekt. Bei wem schon. Und auch, wenn ich es sehr harmonisch und ruhig mag, so eskaliert es bei uns zuhause auch immer wieder mal. Bei uns gehört streiten und schimpfen genauso zu unserem Leben wie lachen und lieben. Und auch wenn ich ein eher hitziger Mensch bin, ist es mittlerweile schon so, dass wir uns bei Philipp um einen sehr ruhigen Umgang bemühen. Und es zahlt sich definitiv aus. Umso ruhiger, unaufgeregter wir sind, umso entspannter ist Philipp und somit unser kompletter Alltag.

Verständnis aufbringen. Das wichtigste in der Erziehung eines besonderen Kindes. Das bringt auch mit, dass meine Erwartungshaltung an das Kind sich an dieses anpasst, ich geduldig und ohne Zwang Aufforderungen stelle. Und ja, es heißt auch, dass ich in manchen Situation von meinem Vorhaben absehe und nachgebe.

Nachgeben. Oder wie manche sagen würden, dem Kind seinen Willen durchsetzen lassen. Mag vielleicht im Falle eines normalen Kindes falsch sein. Ich würde sagen, wenn sich ein Kind gegen etwas wehrt, dann steckt immer etwas dahinter. Muss man dann wirklich mit Zwang arbeiten, nur weil der Wille eines Erwachsenen mehr zählt. Ich will jetzt hier auf keinen Fall eine Grundsatzdebatte vom Zaun brechen über die Art und Weise wie man richtig erzieht. Das soll jeder für sich entscheiden und jeder macht es egal wie richtig. Ich möchte nur sagen, dass manchmal muss man vielleicht einfach hinterfragen, warum denn ein Kind gerade das nicht möchte oder kann, was man als Mama oder Papa von ihm will. Bei einem besonderen Kind, kann die Reaktion auf eine Anforderung mitunter schon mal eskalieren. Wutausbrüche, schlagen, schreien. Wenn so etwas bei uns passiert, breche ich in dem Moment ab. Ja, ich gebe nach. Was nicht heißt, dass ich das was ich möchte, nicht trotzdem erreichen will mit Philipp. Aber ich überdenke die Situation. Habe ich es falsch formuliert? Hat er mich nicht richtig verstanden? Muss er erst eine für ihn (vielleicht auch nur gedankliche) Handlung abschließen? Oder ist er mit der Art der Anforderung überfordert? Während ich also die Situation überdenke, gebe ich Philipp den Raum sich zu beruhigen. Und erst dann, wenn er wieder vollkommen ruhig ist, trete ich wieder an ihn heran und versuche es erneut, aber in angepasster Form.

Ist das nachgeben? Nein. Es ist eine verständnisvolle Erziehung.

Mir wurde mal, nachdem ich ein Beispiel eines missglückten Erziehungsversuches erzählte, gesagt, dass Philipp eine sehr große Macht über mich hat. Ich war entsetzt über diese Aussage, war aber wirklich zu müde mich wieder rechtfertigen zu müssen. Es ging um folgende Situation:

Philipp hatte vor nicht allzu langer Zeit beschlossen, dass er sich permanent im Auto abschnallte. Jedes mal, wenn das Auto zum Stehen kam, war der Gurt ab. Und nicht nur dann. Nein, irgendwann begann er damit, dass er während der Fahrt sich abgurtete und anfing von hinten nach vorne klettern zu wollen. Passierte schon auf der Autobahn innerhalb einer Baustelle ohne Standstreifen, auf der Bundesstraße usw. Ich war dann irgendwann so verzweifelt, dass ich eine Erziehungsmethode versuchte, auf die wahrscheinlich schon viele Eltern kamen. Der Satz aller Sätze in diesem Fall fiel. Wenn du deinen Gurt wieder wegmachst, dann musst du aussteigen und die Mama fährt alleine weiter. Gesagt getan, Philipp schnallte sich wieder ab, ich fuhr rechts ran und sagte ihm, er solle aussteigen. Er tat das auch, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich stieg ein und fuhr an (keine Sorge, wir waren auf einem Privatweg ohne Verkehr) und beobachtete ihn im Rückspiegel. In dem Moment als ich ihn so regungslos da stehen sah ohne jegliche Emotion, war mir klar, was ich für einen Blödsinn da machte. Es machte absolut keinen Sinn, denn er hatte nicht verstanden, was ich von ihm will. Ich blieb also nach wenigen Metern stehen und hab ihn wieder ins Auto geholt. Er zeigte weder Erleichterung, noch zeigte er sonst irgendeine Reaktion. 

Und eben aufgrund dieser Geschichte, kam die Person zu dem Schluss, dass Philipp über mich die Macht hat. Aber ich frage mich, wo hätte es hinführen sollen? Hätte ich ihn stehen lassen sollen und in fünf Minuten zurückkommen? Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die nicht vernünftig war, sondern lediglich auf Verzweiflung beruhte und als ich dies merkte, beendete ich diesen lächerlichen Versuch. Da war keine ausgeübte Macht, keine Manipulation von Philipp mir gegenüber und es war kein Nachgeben meinerseits. Es war einfach der falsche Weg. Wir haben schließlich durch viel kommentarloses Stehenbleiben, Angurten und auch vorne sitzen dürfen, es irgendwann geschafft, dass er den Gurt bis heute nicht mehr selber und schon gar nicht während der Fahrt abmacht.

Anderen in die Erziehung der Kinder einreden, sich ein Urteil schon von einer Situation bilden, ist ein Problem, das schon immer bestand und immer bestehen wird. Mit einem besonderen Kind, das sich halt oft nicht so benimmt, wie es die Gesellschaft erwartet, ist man da noch mehr der Kritik anderer ausgesetzt. Ich bin ehrlich, wenn Philipp draußen einen seiner Anfälle bekommt, will ich auch nur allzu oft davonlaufen. Nervige Blicke und gut gemeinte oder auch blöde Kommentare. Und obwohl ich es ja nicht aus Hilflosigkeit mache, dass ich sein Brüllen erst mal so hinnehme und Abstand halte, komme ich mir in diesem Moment, wo alle Blicke auf uns gerichtet sind, wie die schlechteste Mutter aller Zeiten vor. Ja und dann steht der gerade noch schreiende Philipp auf und ich inkonsequente Mutter kauf ihm auch noch einen Lutscher. Ja kaufe ich ihm. Die Situation ist vorbei und wir wollen einfach positiv weitermachen und das leitet der Lutscher ein (natürlich ist es nicht jedes mal ein Lutscher). Mittlerweile stehe ich da ziemlich drüber. Ich lass mich nicht zu einem Handeln zwingen, was am Ende die Situation nicht entschärft sondern verschlimmert.

Denn ich muss nicht handeln, wie es andere erwarten und mein Kind muss nicht sein, wie andere es haben wollen!

Wir haben ein Verständnis für unseren Sohn entwickelt um ihm den Raum zu lassen, der zu sein, der er ist und nicht zu sein, wie wir ihn haben wollen. Somit muss er nichts, aber wir sind da, um ihm zu zeigen, was er kann.

Verständnis und Liebe führen dazu, dass er sich weiterentwickelt. Kein Zwang und Muss bringt ihn zum Dazulernen. 

Und so wie bei uns Verständnis und Erziehung Hand in Hand gehen, so gehen wir auch Hand in Hand mit Philipp. Wir lernen jeden Tag dazu. Und vor allem lernen wir voneinander.