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Ein guter Tag, ist ein Tag ohne Stromschnellen

Wir sind alle verschieden. Jeder Mensch hat seine Kanten, seine Form, seine Rundungen, wie diese Steine hier. Und ein Leben lang werden wir zwar unsere Grundform beibehalten, aber wir werden immer wieder einen anderen Schliff haben.

Wie kleine herausgesprengte Felsbröckchen erblicken wir das Licht der Welt, das Gesicht noch zerknautscht, die Haut schrumpelig, ein Bewusstsein für sein eigenes Ich und für die Welt noch längst nicht ausgeprägt. Doch das ändert sich rasend schnell, die Wahrnehmung für unsere Umwelt, Entwicklungsprozesse führen schnell dazu, dass diese grobkantigen Furchen geglättet werden und aus dem ehemals zerklüfteten kleinen Felsbrocken entsteht ein kleines, wenn auch noch unförmiges Steinchen. Eltern, Erzieher, die gesamte Gesellschaft, selbst die Natur und sächliche Umwelt nimmt Einfluss auf uns und formt und feilt an uns, bis wir sind wer wir sind. Wir befinden uns in einem Strom. Nicht alleine, viele weitere Steinchen sind immer um uns herum und nehmen weiter Einfluss auf uns. Irgendwann sind wir glatt geschliffen, der Strom umschmiegt uns, wir fühlen uns wohl in unserem Leben, schwimmen gerne in dieser für uns sicheren Umgebung mit.

Doch was für uns eine sichere und wohlfühlende Welt bedeutet, ist für viele unserer Kinder eine Welt voller gefährlicher Stromschnellen. Unsere Kinder haben scharfe Ecken und Kanten, sie haben ein anderes Bewusstsein zu ihrer Umwelt und zu sich selbst entwickelt. Ihr schroffes Äußeres gibt ihnen Sicherheit, aber hindert sie auch daran, sich an all den glatten Steinen anzuschmiegen.

Jetzt ist es aber so, dass auch diese unförmigen Steinchen mitschwimmen möchten. Aber sie können es einfach nicht so gut. Sie versuchen es mit größter Anstrengung, was ihnen jede Menge Kraft abverlangt. Das führt dazu, dass sie sich auf andere Dinge nicht so gut konzentrieren können. Irgendwann fehlt die Energie mithalten zu können, so tun zu wollen als wäre man auch eines der glatten Steinchen. Und dann passiert es. Völlig ungewollt, als würde eine Stromschnelle es packen, schießt das furchige Steinchen mit voller Wucht quer durch den Strom. Stößt mit vielen anderen Steinen zusammen, einige sind böse aus ihrer Bahn gebracht worden zu sein, andere sind verwundert, jeder behält seinen Eindruck, einen Abdruck des Geschehens. Auch das scharfkantige Steinchen bleibt nicht ohne Schaden, kleine Ecken brechen ab, gehen für immer verloren und hinterlassen tiefe Wunden. Enttäuscht und verletzt rotiert das kleine schroffe Felsbröckchen weiter.

Es gibt einen Ort, da muss es nicht schwimmen können. Einen Ort, wo zwar auch glatte Steine sind, aber die sich mit all den Abdrücken, die das kantige Steinchen hinterlassen hat, abfinden. Steine, die unzählige Narben durch viele Kollisionen davongetragen haben. Narben, die eine Geschichte einer wilden turbulenten Zeit erzählen. Narben, die von einer ungetrübten und unerschütterlichen Liebe zeugen. Hier kann das Steinchen, das so gar nicht zu den anderen gesellschaftlich gewollten und genormten Steinen passt, sich ausruhen, Kraft tanken, einfach so sein wie es ist, mit all seinen Wutausbrüchen, überschwänglichen Gefühlen, seinen Ängsten, seinen intensiven Interessen, seinen Bedürfnissen, einfach ein kantiges furchiges Steinchen sein.

Verstecken kann sich aber dieses Steinchen in der wohligen Obhut seiner vertrauten Steine nicht auf Dauer. Das weiß das Steinchen auch und es möchte auch gar nicht. So anstrengend es auch ist, es möchte raus in den Strom, es möchte Freunde finden unter den glatten Steinen, mitschwimmen, Teil des Ganzen sein.

Es weiß nicht warum die anderen Steine so gut schwimmen können. Es weiß auch nicht, wie die anderen Steine sich nur so glatt schleifen konnten ohne sich dabei zu verletzen. Es weiß nur es möchte auch so sein und so bewegt sich das kleine Felsbröckchen wieder unbeholfen durch die Menge. Wenn es nur arg aufpasste, dass es nicht wieder mit anderen Steinen kollidieren würde, dann merken die anderen vielleicht gar nicht, dass es so viele scharfe Kanten hat.

Bloß keine Stromschnelle erwischen.

Vielleicht besser raus aus dem großen Strom, wo so viel los ist und schnell unkontrollierbar wird für den kleinen Stein.

Einen guten Tag findet das Steinchen in einem Fluss, der ruhig und sanft dahinfließt. Ein Strom, der ganz langsam und vorsichtig die scharfen Ecken des kleinen Steinchens abrundet. Es dauert lange und es ist so ein weiterer Weg. Aber ein Weg, der sich lohnt.

Denn ein guter Tag, ist ein Tag ohne Stromschnellen.

Und gute Tage wollen wir für unsere Steinchen haben.