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Schöne Tage enden trotzdem anders

Philipp hier als Patient, der mit offenbar großen Schmerzen vor der Ärztin zusammenbrach
Philipp hier als Patient, der mit offenbar großen Schmerzen vor der Ärztin zusammenbrach

Eigentlich sollte das ja jetzt ein vor Freude nur so überschäumender Beitrag werden. Eigentlich ... Es war ja auch wirklich ein super entspannter Tag. Eigentlich ... Und vor allem ein Tag, der wieder hoffen lies. Eigentlich ... 

Wie so oft waren die Jungs und ich wieder mal bei meiner jüngeren Schwester zu Besuch. Das Wetter war herrlich warm, wir saßen alle im Garten und genossen jeden einzelnen Sonnenstrahl. Ein rundum abgeschlossener Garten, ohne "Fluchtmöglichkeiten", da kann auch ich mal entspannen und einen Ratsch mit meiner Schwester genießen.

Und Philipp war wirklich super drauf. Nicht nur, dass er sich schon richtig gefreut hat, als ich sagte, dass wir zur Tante und seinen Emis (so nennt er alle seine Cousinen) fahren, er war auch richtig glücklich als wir bei ihnen ankamen und er spielte sogar mehr oder weniger fast den ganzen Nachmittag mit seiner jüngeren Cousine. Was mich aber bei dem Spielen so unglaublich glücklich gemacht hatte, war Philipps erstes richtiges Rollenspiel. Vereinzelt macht er Rollenspiele, aber wenn überhaupt nur alleine. So kocht er beispielsweise in seiner Küche, aber selten bekomme ich oder gar sein Bruder davon was zu essen. Und er imitiert dabei nicht mich, obwohl er mich ja täglich in der Küche sieht, er spielt den Film "Ratatouille" nach. Seit er diesen gesehen hat, kocht er. Davor hatte ihn die Küche kaum interessiert.

Aber heute hatte er wirklich mit seiner Cousine "Arzt" gespielt. Mal war er der Patient und ist scheinbar schmerzerfüllt zusammengebrochen und wurde von seiner Cousine verarztet und dann wurde wieder gewechselt und er war der Arzt. Hat abgehört, Medikamente verabreicht, Pflaster angelegt. Es war einfach schön zuzuschauen. Und die Hoffnung steigt natürlich, dass er sich doch mal weiterentwickelt und vor allem Freude am Spiel mit anderen Kindern hat. Man muss natürlich an dieser Stelle auch sagen, dass seine drei Cousinen ihn wirklich einfach so nehmen wie er ist. Und vor allem die Jüngste, die ein gutes Jahr jünger ist, als wie Philipp, ist mit ihm so groß geworden und kennt es einfach nicht anders, liebt ihn so wie er ist. 

So nun endet aber jeder Tag irgendwann und wir müssen wieder nach Hause fahren. Philipp hatte wenig Lust dazu. Natürlich hätte ich auch gerne länger bleiben wollen, aber wir waren nun mal ohne den Papa unterwegs. Und auch wenn dieser absolut nicht erwartet, dass wir brav zuhause zu sein haben, wenn er von der Arbeit kommt, so ist es für uns als Familie einfach wichtig, wenn wir zumindest abends dann noch Zeit miteinander verbringen und vor allem wenigstens eine gemeinsame Mahlzeit am Tag haben.

Auf dem Plan stand, nach Hause fahren und auf dem Weg beim "goldenen M" zu halten und dort was zu Essen mitzunehmen. Das habe ich auch Philipp mitgeteilt, woraufhin er doch bereitwillig ins Auto eingestiegen ist. Er verteilte noch viele Küsschens an seine Tante und seine Cousinen und es gab auch noch ein paar "Hab dich lieb"s und dann fuhren wir los. 

Alles schien zu passen. Eigentlich ...

So dann fing es an. "Nein. X. X. X." schrie er als ich die Straße runter fuhr und auf das kleine Brückchen abbiegen wollte, wo man zur Bundesstraße kam. Gut, dachte ich mir. Ist egal. Fahr ich halt nicht da lang, sondern gerade aus weiter und fahre dann an der Ampel auf die Bundesstraße. Dort angekommen, hat er gemerkt, dass wir wieder quasi auf "unserem Weg" waren und er hat wieder zu brüllen angefangen. Nur was sollte ich machen, nach Hause fahren musste ich ja und ich konnte ja nicht über Pontius und Pilatus fahren.

Es eskalierte komplett. Er eskalierte komplett. Er hat gebrüllt, getreten, wie wild um sich geschlagen. Er saß vorne auf dem Beifahrersitz. Er versuchte mich zu beißen, mir ins Lenkrad zu greifen. Er hat sich so schlimm gegen den Kopf und Gesicht geschlagen, dass er sich dabei die Lippe blutig gekratzt hat. Ich hatte mit meinem Arm seine Schläge abgehalten und bin langsam weiter gefahren. Mir war schnell klar, wo sein Problem lag. In seinem Kopf war einfach nur, dass wir zum "M" fahren. Und er weiß ja schon, dass bei uns zuhause kein "M" ist. Jetzt befanden wir uns aber auf dem Nachhauseweg. Dass wir natürlich nicht, dass Essen da mitnehmen, wo wir fast ne Stunde bis nach Hause brauchen, sondern einen kleinen Umweg über unsere Nachbarstadt machen, das kann er ja nicht wissen. Für ihn war wohl klar, dass wir nicht mehr zum "M" fahren.

Jetzt konnte ich natürlich in diesem Moment die Situation für ihn nicht zufriedenstellend ändern, was wir sonst immer versuchen, wenn so etwas passiert. Ich konnte es ihm auch nicht mehr erklären, denn meine Worte kamen in diesem Moment nicht mehr an. Ich wollte auch nicht mehr stehen bleiben, aus Angst, dass er direkt versucht aus dem Auto abzuhauen. Und da ich ja den Grund seiner Wut nicht ändern konnte, musste ich befürchten, dass sich sein Anfall erst legen würde, wenn er wirklich vor Erschöpfung nicht mehr gekonnt hätte. Und aus unserer Erfahrung mit ihm wissen wir ja leider, dass er da sehr ausdauernd sein kann.

So fuhren wir nach Hause, mein ausgestreckter Arm fing die Schläge ab, wenn er wieder zu toben anfing, wenn er wieder ruhiger wurde, habe ich seine Hand gehalten, bis die nächste Welle unbeschreiblicher Wut und Verzweiflung über ihn kam, er aus dem Nichts meine Hand gepackt hat und versuchte reinzubeißen. Fast eine Stunde Autofahrt und endlich erreichten wir unser Nachbarstädtchen. Direkt am Kreisverkehr sieht man dann schon groß das alles überragende "M". Und noch während ich in den Kreisverkehr einbog, war alle Wut verflogen. Bis zum "M" kamen noch ein paar Schluchzer und aufgeregte Geräusche von ihm und dann war alles vorbei. So schnell wie es aufgezogen war, das Gewitter, so schnell war es rum und die Sonne schien wieder.

Es gab Tage, da wäre ich danach auch fix und fertig gewesen. Und nein, auch heute, ging es mir selbstverständlich nahe und ich habe mitgelitten. Ja, wäre auch am liebsten aus dem Auto gesprungen, oder hatte zwischendrin das Bedürfnis ihn anzuschreien. Ich habs aber nicht getan. Denn egal was ich in dem Moment tue, es ändert nichts daran. Ob ich wütend werde oder ihn versuche zu trösten, es hilft ihm nicht. Aber ich denke schon, wenn ich meine Emotionen egal in welche Richtung, einfach in dieser Situation unter Kontrolle habe, gebe ich ihm in dem Moment die Sicherheit, die er braucht. Er braucht niemanden, der ihn anschreit, denn er versteht gar nicht warum und er braucht auch keine Mama, die in Tränen ausbricht, weil das verwirrt ihn nur zusätzlich. Er braucht eine starke Mama, einen starken Papa, die einfach da sind. Er geht da nicht alleine durch und das weiß er. Auch sein kleiner Bruder profitiert davon. Als Philipp zu schreien und zu treten begann, hatte er furchtbar Angst bekommen, geweint und nach mir gerufen. Ich hab ihm dann gesagt, dass alles in Ordnung ist. Und auch, wenn meine beruhigenden Worte bei Philipp nicht ankommen, so dann doch bei Florian und so war es für ihn dann gleich wieder in Ordnung. Er kennt die Ausbrüche seines Bruders, lebt damit und wenn er sieht, dass wir ruhig bleiben, gibt es für ihn auch keinen Grund zur Sorge.

Das Erlebnis hat mir aber heute einfach wieder einmal gezeigt, wie missverständlich die Kommunikation mit Philipp oft ist. Jetzt machen wir ja wirklich viel für ein besseres Sprachverständnis. Wir sprechen langsam mit ihm, benutzen einfache Sätze, bauen ihm gut bekannte Schlüsselwörter ein, lernen mit ihm Gebärden, haben unseren Alltag durch Bildkarten strukturiert. Aber dennoch ist es immer noch schwierig. Nachdem er seinen Tages-/Wochenplan so gut akzeptiert und auch alles andere an Bildern, die wir zur Erklärung verwenden gut annimmt, werden wir jetzt verstärkt daran arbeiten, dass wir noch gezielter mit Bildern kommunizieren.

Nicht immer können wir für ihn unangenehme Situationen vermeiden, aber derartige Eskalationen, die maßlose Wutausbrüche zur Folge haben aufgrund von Missverständnissen in der Kommunikation versuchen wir ihm und uns einfach zu ersparen. Denn eines ist klar, zu verstehen ist immer noch das wichtigste für ein menschliches Miteinander. Sprache verstehen, Situationen verstehen, Emotionen verstehen, das Leben verstehen. Doch fehlt die Sprache, wird das Verstehen in allen weiteren Bereichen auch sehr schwierig bis unmöglich. Darum ist der erste Schritt der wichtigste, eine Kommunikationsebene zu schaffen, die die Welt für unsere Kinder verständlich macht und uns sie verstehen lässt.