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Schwerhörigkeit, aber kein Autismus?

Schließt sich denn Schwerhörigkeit und Autismus gegenseitig aus? - Wenn man sich mit seinem Kind durch die Diagnostik quält, könnte man schon fast den Eindruck gewinnen....

Da hat man sein Kind mit der Diagnose Schwerhörigkeit, hat diese auch verdaut und geht optimistisch in die Zukunft, dass trotzdem alles gut wird, wie es die Ärzte und Therapeuten ja auch alle stets vermitteln. Man vertraut darauf, schließlich sind das die Fachleute und wissen von was sie sprechen. Aber irgendwann erreicht man den Punkt, wo man zweifelt. Dieser Zeitpunkt war bei uns endgültig erreicht, als Philipp gerade mal 2 1/2 Jahre war. Da beschlich mich zumindest der erste Verdacht, dass er einfach anders ist. Damals bin ich mit meinem Verdacht noch nicht offen damit umgegangen, aber umso mehr man sich in die Thematik einliest, umso mehr ließen sich Verhaltensbeobachtungen von Philipp erklären.

Bis wir aber diesbezüglich eine Diagnostik angefangen hatten, verging aber noch einiges an Zeit. Philipp fing im Kindergarten an, ging auch gerne, hat zwischendrin auch immer wieder so minimale sprachliche Entwicklungsschritte gemacht (da spreche ich von, immer wieder ein paar Wörter im Monatstakt dazugelernt). Für uns einfach nicht verständlich und wir wurden aber immer wieder beruhigt, er würde einfach noch bisschen Zeit brauchen und das würde schon alles werden. Mit Ende des ersten Kindergartenjahres waren wir dann mit 3 1/2 Jahren schließlich das erste mal im SPZ.

Mir war von vornherein klar, dass die Diagnostik schwierig werden würde, da Philipp in Testsituationen absolut blockt und nicht mitmacht, hegte aber trotzdem Hoffnung, dass es klappt. Es hieß ja schließlich im SPZ ist man darauf spezialisiert und man könne dort selbst bei Kindern, die da nur schwierig zur Mitarbeit zu bewegen sind, testen. Okay, dachte ich mir, es wird uns jetzt dann endlich geholfen und wir wissen vielleicht bald, warum mit Philipp alles anders ist. Eine zusätzliche Autismus Diagnose wäre damals für uns wirklich noch niederschmetternd gewesen, weil wir die Ungerechtigkeit, die Philipp in unseren Augen dadurch erfahren hätte, einfach nicht ertragen hätten.

Die Tests liefen wie erwartet. Philipp hat bei der Logopädin nichts mitgemacht, hat die Mitarbeit bei der Ergotherapeutin verweigert und bei der psychologischen Testung (ET 6-6) sollten wir draußen warten, obwohl wir der Therapeutin sagten, dass er das gerade nicht möchte. Das Ende vom Lied war, nach nur wenigen Minuten wurden wir hinzugeholt, einen Philipp vorfindend, der schon völlig die Fassung verloren hatte und infolgedessen auch in Anwesenheit vom Papa nichts mehr mitgemacht hatte. Die Tests liefen über den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein und das auswertende Gespräch war dann erst Ende Oktober.

Mir war aber im Sommer schon klar, dass zum einen nicht wirklich was rauskommen wird, das hat man im Gespräch mit der Ärztin und den Therapeuten schon rausgehört und zum anderen war mir klar, wir werden selber etwas ändern müssen. Ich hatte mich vorher noch nicht so intensiv mit dem Thema Autismus befasst und wusste auch nicht, was man alles für sein Kind machen konnte. Allerdings bin ich während der Wartezeit im SPZ auf den Begriff TEACCH gestoßen. Also hab ich mir das zuhause mal angeschaut und habe festgestellt, dass dies ja relativ einfach umzusetzen ist und auf keinen Fall Schaden verursacht, wenn wir diese Methoden in unseren Alltag einbauen. So haben wir angefangen mit unserem visualisierten Tagesplan und Bildkarten. Das witzige war dann, unsere Heilpädagogin von der Frühförderung kam nach den Sommerferien mit der gleichen Idee im Gepäck an und nach einem Gespräch mit dem Kindergarten wurde es dort auch direkt umgesetzt. So lief schon eine sehr wichtige Unterstützung für Philipp noch bevor wir überhaupt ein Ergebnis vom SPZ hatten.

Ich weiß nicht, ob es nun gut oder schlecht war, dass ich selbst schon so aktiv war. Ob ich anderweitig mehr Unterstützung vom SPZ bekommen hätte, dass sie dann eher gedacht hätten, man müsse uns unter die Arme greifen oder hätten sie so und so nichts weiter unternommen. "Sie machen das ganz prima so und es wäre toll, wenn alle Eltern so engagiert wären wie sie. Machen sie weiter so und es wird alles werden mit Philipp. Und noch ist Zeit, er wird seinen sprachlichen Rückstand noch sicher aufholen." Philipp ist schwerhörig und (dadurch) die Entwicklungsstörung, die Sprachentwicklungsstörung, die emotionalen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten. Kurzum viele schwerhörige Kinder hätten autistische Züge, sind aber keine Autisten. Die Erklärung einfach wie logisch. Kommt es durch die Schwerhörigkeit zu einer Sprachentwicklungsstörung, ist die Kommunikation erschwert, was zum einen mit sich bringt, dass soziale Kontakte nicht geknüpft werden können und zum Rückzug des Kindes führt und zum anderen durch das ständige "Nicht-Verstehen" und das "Nicht-Verstanden-werden" kommt es im Rahmen der Schwerhörigkeit zu oppostionellem Verhalten, sprich herausfordernde Verhaltensweisen. Dies alles würde dazu führen, dass eben autistische Züge zu beobachten sind.

Unmittelbar nach dem auswertenden Gespräch machte sich Erleichterung breit. Es würde alles in Ordnung kommen, Philipp muss nur sprechen lernen und alles wird gut. Kein Autismus. Aber diese Erleichterung hielt nicht lange stand und die Zweifel kamen wieder. Philipp spricht einfach nicht, nur ansatzweise und sehr sporadisch. Er kann zwar manchmal Wörter nachsprechen, aber das ist selten. Bei der Logopädin spricht er fast alle Wörter nach, die sie mit ihm übt, er benutzt diese Wörter aber trotzdem nicht. Mal versteht er ein und denselben Sachverhalt, den man zu ihm sagt und das nächste mal wieder überhaupt nicht. Und nein, nicht weil er keine Lust hat oder zu bockig ist, wie dann ganz gerne gesagt wird. Den Unterschied, ob er nicht hören will oder gerade wirklich nur Bahnhof versteht, erkenne ich sehr wohl. Er imitiert Verhalten und Sprache von Serienfiguren oder von Filmen, aber eine Unterhaltung ist nicht möglich.

Kurzum es sind seit dem ersten SPZ Besuch nun bald zwei Jahre vergangen, mittlerweile waren wir zur nächsten jährlichen Kontrolle wieder dort, die nichts Neues ergab und Philipp macht nach wie vor nur ganz kleine Fortschritte. Deshalb hatten wir uns entschlossen, dass wir ihn nun doch noch mal genauer testen lassen und sind zu einem Kinder- und Jugendpsychiater gegangen. Da stecken wir jetzt aktuell noch in der Diagnostik. Aber bereits die ersten Gespräche waren schon ganz anders als im SPZ. Keine Spur von allgemeinen Aussagen und schon gar keine Rede davon, dass manche Dinge, die er macht, nun mal so sind und nicht weiter auffällig wären oder gar normal sind.

Eines ist klar und das sage ich jetzt, ohne ein Arzt oder Therapeut zu sein. Natürlich ist die Erklärung, dass schwerhörige Kinder autistische Züge entwickeln können, nachvollziehbar. Aber pauschal sagen, kann man dies auf gar keinen Fall. Die Schwerhörigkeit ist kein Ausschlusskriterium für Autismus. Es ist richtig, dass es die Diagnose bestimmt nicht einfacher macht. Aber dann muss man umso genauer hinschauen und die Zusammenhänge genau analysieren. Meines Erachtens wurde das bei Philipp nicht gemacht und stattdessen hat man uns mit sehr pauschalen Aussagen abgespeist. 

Ja, Philipp ist schwerhörig. Aber er hat eine gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit, die sich trotz des LVAS bislang nur minimal verschlechtert hat. Und auch wenn man die Beteiligung des Innenohrs mit berücksichtigt, wären vielleicht Probleme in der Aussprache zu erwarten gewesen, aber keinesfalls, dass die Sprache sich so fast gar nicht entwickelt. Dies hatte uns auch sein behandelnder Professor an der Uniklinik bestätigt. Das heißt, dass alleine schon für die Sprachentwicklungsstörung eine andere Erklärung da sein müsste, als eben nur die Schwerhörigkeit. Und nachdem er optimal versorgt ist und man ja auch im Alltag sieht, dass das Hören an und für sich kein Problem ist, er ja auch Sprache hört, sonst könnte er sie ja auch nicht imitieren, lässt dies zudem nahe liegen, dass das Problem eine andere bzw. weitere Ursache haben muss. Und wenn man dann noch einige Dinge an ihm beobachtet, die ja auch durchaus schon bekannt sind, wie seine Probleme mit der Körperwahrnehmung, sein fehlendes Gefahrenbewusstsein, viele Verhaltensweisen, die er zeigt, dann passt einfach alles ins Autismus-Spektrum rein.

Ich möchte nicht darüber urteilen, wie tief er im Spektrum ist oder auch nicht. Aber vielleicht ist gerade der Umstand, dass er schwerhörig ist und mehr oder weniger fast abschalten kann, wenn er seine Hörgeräte rausnimmt, der Grund, warum er besser damit umgehen kann und deshalb nicht ganz so auffällt.

Schwerhörigkeit, aber kein Autismus? Bei uns ist die Frage noch nicht endgültig geklärt. Vielleicht klärt sich die Frage auch nie. Wir werden aber nie aufgeben für unseren Sohn zu kämpfen, dass er das bekommt, was er braucht. Und so lange uns nicht geglaubt wird bzw. er keine andere Diagnose hat und die Therapien, die er schon verschrieben bekommen hat, nicht anschlagen, werden wir weiterhin nach Möglichkeiten suchen, wie wir ihn unterstützen können.