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Warum Philipp schon immer besonders war

Gar keine Frage. Welches Kind ist denn bitte nicht besonders? Und dann noch dazu das erste Baby. Alles ist neu und aufregend. Vieles hat man schon von Freunden oder in der Familie gesehen, wenn Nachwuchs da war. Aber es dann selbst zu erleben, ist doch noch mal eine Erfahrung der ganz besonderen Art. So ging es uns auch mit unserem Philipp. Allerdings sorgte er doch immer wieder für eine Überraschung, die uns doch schmunzeln ließ oder auch schon mal verzweifeln. Zu diesem Zeitpunkt waren wir aber weit davon entfernt, daran zu denken, dass irgendetwas bei ihm anders wäre. Er war halt einfach besonders. Besonders anders. Viele unserer Beobachtungen, ließen uns erst mit der Zeit und im Nachhinein zu der Überlegung kommen, dass da einfach noch mehr ist.

Philipp war ein sehr ruhiges und ausgeglichenes Baby. Sofern wir alleine waren. Sobald sich etwas daran änderte, war er nervös und weinte. Es fing an, dass er absolut nicht gestillt werden konnte, sobald beispielsweise mein Vater zu uns rüber kam. Wenn es ums Stillen ging, war es nicht grundsätzlich kompliziert mit ihm, er trank gut und alles hatte prima geklappt. Allerdings hatte er dann mit ungefähr zwei Monaten das Stillen komplett verweigert. Wir vermuten, natürlich jetzt im Nachhinein, dass die Anwesenheit seiner Cousinen, die damals für einige Tage bei uns waren, ihn durcheinander gebracht haben. Auch mit der Flasche war er kaum zu füttern, Milch schien für ihn absolut kein Hochgenuss zu sein. Bisschen besser wurde es, als er dann bereits mit drei Monaten feste Nahrung bekam. Milch hatte er dann mit etwa neun Monaten komplett verweigert und hatte erst vor etwa zwei Jahren wieder angefangen Milch zu trinken.

Von seinem Trink- und Essverhalten mal abgesehen, war eines schnell klar. Philipp war total überfordert, wenn Besuch bei uns war und noch schlimmer, wenn irgendwelche Feiern waren. Wir sind eine große Familie und bei uns ist immer viel los, auch im Alltag ist immer etwas geboten. Also er war bestimmt nicht sensibilisiert und war dann geschockt, wenn plötzlich Trubel ausbrach. Aber egal, was auch für eine Feier war, Philipp weinte und weinte. Er ließ sich nicht beruhigen. Er schwitzte sehr schnell. Darum war das erste, was wir immer machten, ihm etwas auszuziehen. Ein Baby, im Winter, das im Haus nur im leichten Body war, weil alles andere zu heiß war und das obwohl man nur mäßig einheizte. Bloß keinen Fußsack in der Maxicosi oder im Kinderwagen... Naja, das Ausziehen half jedenfalls, wenn auch nur kurz, weiter. Meist ließ er sich aber absolut nicht beruhigen. Wenn nicht oft die Tante mit ihren bunten Tüchern und ihrer ruhigen Art, die sie als erfahrene Mama mitbrachte, für Ablenkung gesorgt hätte, wäre für uns so manche Feier schon nach kurzer Zeit vorbei gewesen. Unser erstes gemeinsames Weihnachten, mit Besuch von den Großeltern, verbrachte ich noch vor der Bescherung mit Philipp im Schlafzimmer, weil er nicht mehr aufhörte zu schreien. Das selbe  an Silvester. Seine Taufe, eine einzige Katastrophe, ab Kaffee und Kuchen ging nichts mehr. Alle Versuche ihn zu beruhigen waren vergebens. Wir hatten es damals einfach als relativ normal gesehen, da ja viele Babys anfängliche Anpassungsschwierigkeiten haben. Und als ja dann die Diagnose mit der Schwerhörigkeit kam, hatten wir, so dachte man, eine Erklärung. Sein Verhalten, wie er sich auf Familienfeiern und größeren Menschenaufläufen benimmt, hat sich einfach bis jetzt nicht geändert. Jetzt weint er halt nicht mehr, sondern verkriecht sich dann irgendwo. Sind wir draußen unterwegs und es sind viele Menschen um uns rum, auf Märkten oder so, dann konzentriert er sich auf die Pflastersteine, schaut entweder konsequent, dass der Fuß genau auf einen Stein tritt oder bückt sich alle paar Schritte und muss die Steine anfassen.

Philipp wuchs heran und irgendwie war er in allem einfach langsamer. Wir machten uns keinen Stress deshalb. Jedes Kind hat seine eigene Geschwindigkeit. Und irgendwie war er auch immer so mit ach und krach innerhalb der "Norm". Der Kinderarzt war zufrieden.

Die Abweichung, dass er sich nicht ganz altersgemäß entwickelte, wurde erst später immer deutlicher. Angefangen alleine beim laufen lernen, das er erst mit etwa 21 Monaten konnte. Dann entwickelte er Eigenarten, die uns manchmal in Erstaunen setzten und die auch manchmal lustig waren. Spielen war irgendwie nie so sein Ding. Mama, die am Boden saß, um mit ihm etwas zu spielen, wurde gänzlich ignoriert. Wenn er sich denn schon mal mit etwas zum Spielen beschäftigte, durfte man ihn nicht stören. Er ist dann auch schon einfach mal weg oder hat einem zumindest den Rücken zugedreht. Wir haben das nicht verstanden. So ein Verhalten kannten wir absolut nicht. Und auch, wenn wir natürlich immer den Kontakt zu Philipp suchten, egal auf welche Art und Weise, ob es im Spiel, in der Kommunikation oder mit Kuscheln war, so war es schon ein Stück weit frustrierend, dass von ihm einfach so wenig bis gar nichts zurückkam. Irgendwann fing er dann an, dass er im ganzen Raum Bücher aufgestellt hatte. Jedes wurde ganz lange ausgerichtet. Fiel eines um, dann wurde es wieder genauso aufgestellt. Passierte dies mehrmals, dann war eine Krise vorprogrammiert. Keines durfte verrutscht oder weggenommen werden. Anfänglich fanden wir es etwas lustig, bis wir dann eben den Verdacht auf Autismus hatten.

Viele der Dinge, die er machte, passten einfach.

Er machte aus seinem Käse beispielsweise winzige kleine Stückchen und klebte diese an die Wand. Ja, an die Wand. Und nein, wir fanden es natürlich nicht lustig, wenngleich wir auch beim ersten mal mehr als verwundert waren. Wir hatten ihm jedes mal gesagt, dass er das nicht machen darf. Aber er machte es immerfort. Wir nahmen den Käse wieder ab, er bekam eine Krise, beim nächsten Essen mit Käse, machte er es wieder. Er malte winzige Bilder an die Wand und saß dann wirklich geraume Zeit davor, befühlte sie wieder und schaute sie intensiv an. Da wir ohnehin bald Streichen wollten, drückten wir da ein Auge zu. Irgendwie schien es ihn zu beruhigen. Er war dabei fast wie in Trance.  Auffällig war auch, sein Interesse an Licht. Damit meine ich jetzt nicht nur, das bloße ein- und ausschalten von Licht, was jedes Kind in der Kleinkind-Entwicklung gerne macht. Nein, er war fasziniert davon. Egal, wo wir hin kamen, das erste, was er sagte "mpe", sein Wort für Lampe und eines seiner ersten Worte überhaupt. Diese Begeisterung hält eigentlich bis heute an. Egal wo, es werden Lichter ein- und ausgeschaltet. Gerne in Arztpraxen oder in Situationen, wo wir warten müssen oder er sich etwas unwohl fühlt, lenkt Philipp sich so ab.

Keine Frage. Seine Auffälligkeiten, seine Besonderheiten, wichen für uns immer weiter von dem ab, was wir als "normal" kannten. Einige Dinge behielt er über längeren Zeitraum so bei, manche sind bis heute aktuell oder mal mehr oder weniger stark ausgeprägt. Wir beobachten aber eine Tendenz, dass er mehr und mehr in seiner Welt lebt. In Situationen, wo er sehr gestresst ist, sowieso, aber auch grundsätzlich werden seine Interessen immer einseitiger und seine sozialen Kontakte, wenn sie denn je ansatzweise da waren, werden immer eingeschränkter. Er scheint die meiste Zeit kaum ein Interesse an anderen Menschen oder gar Kindern zu haben. In einem kleinen Rahmen, wo er im besten Fall nur einer Person oder nur ein paar Personen gegenüber steht, da gelingt eine soziale Interaktion, wenn auch nur sehr mühsam und mit Unterstützung. Sobald die Gruppe aber zu groß wird, zieht er sich komplett zurück. In diesem Fall ist es auch völlig egal, ob ihm die Personen bekannt sind oder ob es für ihn Fremde sind.

Ich könnte hier noch endlos weitermachen, über all die Besonderheiten zu erzählen, die wir im Laufe der Jahre mit Philipp erlebt haben und die ihn einfach ausmachen. Egal, ob es seine Vorliebe ist lieber unbekleidet herumzulaufen, was er ja irgendwie als Baby schon lieber hatte, oder ob uns seine "Spinnenwerke" (s.o.) ins Wohnzimmer sperrten, seine Eigenarten beim Essen. Es ist so vieles mehr. Und vieles habt ihr in unseren Beiträgen schon erfahren oder ihr werdet darüber in kommenden Geschichten von uns darüber lesen. Neue Abenteuer mit Philipp gehen uns auf jeden Fall nicht aus.

Ja, unser Philipp ist anders.

Anders besonders.

Besonders liebenswert.